Die sozialdemokratische Kommunalpolitik in Wien der Jahre 1919 bis 1934 war geprägt von wegweisenden Wohnbauprojekten und von Reformen in der Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Bekanntgeworden ist jene Periode unter dem Namen «Das Rote Wien». Von 1925 bis 1934 entstanden in Wien im Rahmen eines international beispiellosen Projekts fast 65.000 Wohnungen in gemeindeeigenen Bauten. Große Wohnblocks wurden um Höfe mit weiten Grünflächen gebaut. Berühmteste Beispiele sind der Karl-Marx-Hof und der George-Washington-Hof. Schon seinerzeit war die Bewunderung für die Leistungen im Bereich des Sozialwohnungsbaus gross. Und noch heute finden Besichtigungen dieser Bauten statt, reisen Menschen aus dem Ausland an, um sich diese beispielhaften Bauten zeigen und erklären zu lassen. Weniger bekannt ist, dass Fotos in Broschüren und Fotoansichtskarten wesentlich zur Bekanntheit dieser Siedlungen beigetragen haben.
Zeitschriften und Zeitungen berichteten damals von den grossen Anstrengungen im Baubereich in Wien. Gleichzeitig wusste aber auch die Stadtverwaltung die eigenen Leistungen medial geschickt zu bewerben. Harald R. Stühlinger, Kunsthistoriker und Architekt, Dozent für Architektur-, Bau-und Städtebaugeschichte an der Fachochschule Nordwestschweiz, hat vor kurzem das Buch «Rotes Wien publiziert» herausgegeben, in dem es um die spannende Beziehung von Architektur in Medien und Kampagnen geht. Sein Forschungsansatz ist ungewöhnlich, steht doch nicht die Arbeit der Architekten im Zentrum der Studie, sondern der mediale Umgang mit dieser Architektur. Fachleute gehen im Buch den begleitenden medialen Massnahmen nach, welche die Stadtverwaltung Wien zur Bekanntmachung ihrer Leistungen auf dem Gebiet des Wohnbaus unternommen hat. Hervorragende Fotografen wurden damals engagiert, um die neuen Bauten zu fotografieren. Fotoansichtskarten von den Neubauten wurden in grosser Anzahl hergestellt, vertrieben und in alle Welt verschickt, womit das Rote Wien auch im Ausland an an Bekanntheit gewann.
Aber auch Plakate, Broschüren, mehrbändige Publikationen und Ausstellungen und Filme wurden eingesetzt, um das Rote Wien in Bildern bekanntzumachen. Anna Stuhlpfarrer, Dozentin im Bereich zeitgenössische Fotografie, geht im erwähnten Buch der Fotopostkarte als Propagandamedium im Roten Wien nach. Ansichtskarten waren zu jener Zeit sehr beliebt. Insgesamt bis zu 10 000 verschiedene Fotografien und Illustrationen soll es damals als Motive auf der Bildseite von Ansichtskarten gegeben haben, die von mehreren Dutzend Herstellern verlegt wurden. Vertrieben wurden die Karten durch Buchhandlungen, Papier- und Schreibwarengeschäfte, Drogerien und Tabakläden. Fotokarten wurden nicht nur verschickt, sie wurden auch gesammelt. Die Zahl der Ansichtskarten mit Fotos von besonders gelungenen oder markanten Bauten war gross. Mit ihrem Versand wurden die abgebildeten Bauten bekannter, erhielten mit der Zeit den Rang von Sehenswürdigkeiten. «Sie zeigen neben den grossen Geschosswohnbauten und Siedlungen mit ihren Gemeinschaftseinrichtungen wie Zentralwäschereien, Bädern und Büchereien auch eine Auswahl der neu entstandenen Kinder- und Fürsorgeeinrichtungen», schreibt Architekturhistorikern Anna Stuhlpfarrer. Die Fotopostkarten dienten als Andenken sowie der Werbung und der politischen Propaganda der Stadtbehörden. Schon die Tatsache, dass die Wohnbauten als schöne Ansichtskarten existierten, verliehen den Bauten eine Art höheren Rang, wo doch Wohnbauten in der Regel nicht als Ansichtskartenmotive dienen. Die Ansichtskarten waren aber auch Teil einer propagandistischen Kampagne der Wiener Stadtverwaltung.
In einer Analyse der fotografischen Karten stellt Stuhlpfarrer fest, dass Detailaufnahmen wie Türen, Fenster oder Baudekor als Ansichtskarten praktisch nicht existieren und dass die Fotografien trotz unterschiedlichen Herausgebern weitgehend einem einheitlichen Prinzip, einer einheitlichen Fotosprache folgten. Die Karten sind fast immer von einer weissen Rahmung umgeben. «Die Bildlegenden – Hofname beziehungsweise Bezirk- und Strassenname der Wohnbauten sowie in Ausnahmen auch ausführende Architekten – sind am unteren Rand derselben positioniert». Die Namen der Fotografen fehlen in der Regel im Gegensatz zu den Namen der Verleger. Die Fotos sind Schwarz-Weiss, wurden nicht koloriert und die Fotografen vermieden in der Regel extreme Standpunkte wie Dächer oder höher gelegene Balkone benachbarter Häuser. «Die überwiegend aus der Fussgängerperspektive aufgenommenen Architekturen mit weiten Rasenflächen oder Grünbereichen im Vordergrund sowie offenen Strassenräumen beziehen die Betrachtenden in den neu geschaffenen Lebensraum mit ein», was auch mit dem damals prägenden Schlagwort in der Architektur zu tun hat: Licht, Luft, Sonne». Es ist nicht mehr bekannt, wie gross die Auflagen solcher Architekturkarten waren. Aber noch heute finden sich solche Architektur-Ansichtskarten des Roten Wien in Sammlungen von Privatpersonen und Museen, sind sie begehrt an Sammlerbörsen. Architekten nahmen damals, wenn sie auswärts Vorträge hielten, gerne solche Ansichtskarten mit, die sie den Zuhörenden verteilten.
Beide Bilder: Ansichtskarten Am Fuchsenfeld (heute Edmund-Reismann-Hof). Beide Bilder von Martin Gerlach jun. ©Wienbibliothek im Rathaus, Wien. Das vorgestellte Buch: Rotes Wien publiziert – Architektur in Medien und Kampagnen, hg. Von Harald R. Stühlinger, mandelbaum verlag Wien
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