Was Ansichtskarten zeigen

Hand aufs Herz, wann haben Sie zum letzten Mal eine Ansichtskarte mit einer Fotografie auf der Rückseite gekauft, beschrieben und abgeschickt? 

Ansichtskarten hatten schon eine bessere Zeit. Lange bevor das Telefon aufkam und bevor man Fotografien vom Smartphone verschicken konnte, waren Ansichtskarten jene Postzusendungen, mit denen man kurze Mitteilungen von einem Bild begleitet verschicken konnte. Wer Ansichtskarten verschickte, musste sich nicht lange Texte ausdenken und schreiben, die Postgebühr war zudem niedriger als diejenige für Briefe. Papeterien, Fotogeschäfte, Souvenirläden, Kioske und Buchhandlungen verkauften Ansichtskarten. Noch bis in den 50er Jahren waren die Karten besonders für Grüsse aus den Ferien beliebt. Ob aus Paris oder Palermo, aus von Berlin oder Bari: Man kaufte in den Ferien Ansichtskarten, setzte sich in einem Café hin, schrieb Grusstexte und verschickte sie an Freunde und Verwandte. So konnte man zeigen, wo man in den Ferien war und wie schön es dort ist. Wie beliebt der Versand solcher Karten war, zeigt eine Aufstellung in einem Buch, das sich ganz dem Medium Ansichtskarte widmet: Wurden im Jahr 1870 in der Schweiz noch 220 000 Karten verschickt, betrug die Zahl im Jahr 1873 bereits 2,3 Millionen; 1890 waren es dann 15,9 Millionen, im Jahr 1913 schliesslich 112,5 Millionen Karten. Erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann die Zahl der verschickten Karten deutlich abzunehmen, weil der Tourismus darnieder lag. 

Heute sind an die Stelle dieser Postkartengrüsse die MMS Bilder, die Selfies getreten. Wer Ansichtskarten mit Bildern von Touristenattraktionen verschickt, ist entweder altmodisch, nostalgisch oder empfängt selber gerne Karten, auf denen einige handschriftliche Sätze stehen. Die Handschrift ist persönlicher als ein kurzer getippter Text bei der Smartphone-Fotografie. 

Ansichtskarten haben ihren Anteil in der Geschichte der Fotografie. Und weil es sie seit den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gibt, können Ansichtskarten auch durchaus als Dokumente der Geschichtsforschung dienen. Genau das zeigt Roland Böhmer, Mitarbeiter der kantonalen Denkmalpflege Zürich und selber Sammler alter Ansichtskarten, in dem von ihm herausgegeben grossformatigen Buch mit dem witzigen Titel «Ich wollt’s auf tausend Karten schreiben». Knapp 200 Ansichtskarten aus seiner riesigen privaten Sammlung hat er für das Buch ausgewählt, für jede Gemeinde im Kanton Zürich eine Karte, für Stadtteile von Zürich und Winterthur je eine. Und zu jeder dieser im Buch abgebildeten Foto-Ansichtskarte hat er einen erläuternden Text geschrieben, in dem es um das Abgebildete geht. Historische und soziologische Fakten werden anhand der Bilder erläutert. Aber auch solche zur Industriegeschichte.  Eine wahre Fundgrube, hinter der lange Recherchen stecken! Unter den ausgewählten Sujets finden sich zahlreiche seltene Motive. Bild- und Textseite der Karten erläutert Böhmer und stellt sie in einen grösseren Zusammenhang. Die Texte zeichnen ein anschauliches Bild der Lebensverhältnisse im Kanton Zürich während der Belle Époque, des Ersten Weltkriegs und der Zwanzigerjahre. 

Jochen Hesse, Leiter der Graphischen Sammlung der Zürcher Zentralbibliothek, ist für das Buch der Geschichte des Mediums Postkarte nachgegangen und hat einen Text zum Thema beigetragen, in dem er zeigt, wie und wo solche Karten mit welcher Technik hergestellt wurden, wie unglaublich verbreitet sie waren, als die Post in der Schweiz noch dreimal am Tag ausgetragen wurde und man am Vormittag eine Karte in den Postkasten werfen konnte, die spätestens gegen Abend desselben Tages beim Empfänger im Briefkasten lag. 

Provianttransport zur Clubhütte zur "steilen Wand", Zürich

«Philokartisten» nennt Jochen Hesse die Sammler alter Ansichtskarten. Sie treffen sich an Sammlerbörsen, sie tauschen und kaufen, sie fahren von einem Antiquitätenmarkt zum nächsten, geben manchmal nicht wenig Geld für besondere Trouvaillen aus und können die Abbildungen auch dann deuten, wenn Bilder keine Ortsangaben aufweisen. Im Jahr 2000 wurde Zürichs letzter grosszügig dotierte Ansichtskartenladen von Anita Pastorini an der Gemeindestrasse geschlossen. Dort konnte man Karten zu jedem Thema kaufen. Es gab in der Schweiz nämlich während Jahrzehnten mehrere Ansichtskartenverlage, von denen es heute noch einen grösseren gibt, den Photoglob Verlag. Ein solcher Verlag, dessen Geschichte Sammler Paul Bächtiger in Horgen am besten kennt, war der Hermann Guggenheim Verlag in Zürich. Verlagsgründer Hermann Guggenheim war Vater des bekannten Schweizer Malers Varlin. Mit der Kamera – damals noch ein schweres Ungetüm – sowie mit Stativ bereiste er die Schweiz, machte Aufnahmen von besonders sehenswerten Landschaften und Ortschaften. Die Glasnegative befinden sich heute in der Nationalbibliothek in Bern. Guggenheims Mitarbeiter schwärmten aber auch ins Ausland aus, fotografierten in Holland und Belgien, in den USA und Mexiko. Über 1300 verschiedene Motive aus Guggenheims Postkartenverlag besitzt Sammler Bächtiger, viele präsentiert er auf seiner Homesite. 

Roland Böhmer zeigt mit seiner Beschreibung der 200 Karten, wie sehr Ansichtskarten Informationsträger sind. Sie können Auskunft geben über Gewerbe, Traditionen, Baugeschichte, Landschaftsveränderungen, Mode, Wehrwesen, den öffentlichen und privaten Verkehr. Insbesondere dann wenn sie aus einer Zeit stammen, in der Kameras noch nicht verbreitet waren. Fotografen, die auf die Herstellung von Ansichtskarten spezialisiert waren, fotografierten für Fabrikanten und Gewerbetreibende, für Kaufhäuser, Hotels und Restaurants die Bauten, die dann als Ansichtskartenkarten zu Werbezwecken eingesetzt wurden. 

Beide Bilder aus dem Besitz von Sammler und Herausgeber Roland Böhmer. Das grosse Bild aus Markthallen. „Ein Militärschneider als Ausstellungsobjekt“. Das kleine Bild: Zürich-Leimbach. „Alpinismus am Albis“. Das erwähnte Buch: Roland Böhmer: «Ich wollt’s auf tausend Karten schreiben», Ansichtskarten aus dem Kanton Zürich 1890–1930, Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Bd. 88. Erhältlich im Buchhandel oder beim Chronos-Verlag. 48 Fr. 

Eingeworfen am x.x.202x

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte Sie auch interessieren

Der aufmerksame Stadtblick

Der aufmerksame Stadtblick

Lucia Frey und Bruno Kuster sind Fotografen und Visuelle Gestalter in Zürich. Oder präziser noch: wieder in Zürich....

Bilder unsichtbarer Grenzen

Bilder unsichtbarer Grenzen

Grenzen sind das Thema der Ausstellung «Ars Termini» im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil, die Kurator Guido Baumgartner...

Das Bild vom roten Mantel

Das Bild vom roten Mantel

Sonntagvormittag im Herbst. Die zumeist älteren Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes der St.Martinskirche am...