Der Mann im langen Rock

Der Maler Willi Koch auf dem Dach seines Ateliers in St.Gallen

Autor: Michael Guggenheimer

Beim Ordnen meines Fotoarchivs ihm begegnet. Wann habe ich diese Fotografie wohl zum letzten Mal in der Hand gehabt? Im Hintergrund die Türme der Kathedrale von St. Gallen. Ein Wintertag. Maler Willi Koch ist 1988 gestorben. Das Bild habe ich vor über 40 Jahren aufgenommen. Analog und nicht farbig. Hinterlauben heisst die Gasse, wo sich sein Atelier in einem der oberen Stockwerke befand. Wir sind auf die Dachterrasse gestiegen, er sicher voran, weil er mir die Aussicht zeigen wollte. Ich kann mich zwar an den Besuch im Atelier nicht erinnern. Aber ich muss dort gewesen sein. Ich habe ja das Bild gemacht. Bei meinem letzten Besuch in St.Gallen bin ich noch zur Schalterhalle des Bahnhofs, wo sich einst das Bahnhofs Buffet erster Klasse befunden hat: dort wurde vor einigen Jahren ein grossflächiges Landschaftsbild von Koch freigelegt. Ein anderes Bild Willi Kochs im Gebäude der Firma Bischoftextil zeigt eine St.Galler Kinderfestszene. Eine Art Ersatz für das Fest, das dieses Jahr wegen der Pandemie nicht stattgefunden hat. 

Willi Koch ist einer unter den bildenden Künstlerinnen und Künstlern aus St.Gallen, die ich in den Jahren, in denen ich dort lebte, fotografiert habe. Johanna Nissen-Grosser, Lucie Schenker und Max Graf sind in meiner Fotosammlung vertreten. Werke von ihnen sind derzeit in einer – leider nicht schön kuratierten – Ausstellung im ehemaligen Zeughaus in Teufen (AR) zu sehen. Fotos von Karl Fürer, Bernhard Tagwerker und Hélène Kaufmann-Wiss habe ich in meiner Sammlung gefunden. Ich habe sie ebenso vor vier Jahrzehnten fotografiert wie die Künstler Roman Signer, Urs Eberle, Hansjörg Rekade, Hansruedi Fricker, Walter Vogel, René Gilsi, Emil Heinz, David Bürkler, Larry Peters, Sabeth Holland, Robert Geisser, Ferrucio Soldati und Werner Schmid. Nun wohne ich seit langem nicht mehr in der Ostschweiz. Den Künstlern auf meinen Fotografien begegne ich nicht mehr, die Fotos gehören wohl eher ins städtische Fotoarchiv in St.Gallen. Weil ich von manchen Künstlern den Vornamen nicht mehr kannte, suchte ich Angaben zu ihnen im Netz. «Die Kunsthistorikerin Corinne Schatz lancierte die Idee, zum achtzigsten Geburtstag von David Bürkler eine Publikation herauszugeben. David hat sich sehr darauf gefreut«, heisst es in einer Mitteilung des Vexer Verlags. Das klingt so, als ob der im Jahr 2016 verstorbene Künstler Herausgabe des Buchs nicht mehr erlebt hat. 

Der Maler Werner Schmid als Koch in der Kneipe Chlöschti in St.Gallen

Die Fotografie von Werner Schmid gehört zu meinen allerersten Bildern, die in einer Zeitung erschienen sind. In meinen Unterlagen finde ich den entsprechenden Zeitungsartikel nicht, ich müsste ins Staatsarchiv nach St.Gallen fahren, um dort die Jahrgänge 1972 bis 1975 der längst eingestellten Tageszeitung Ostschweizer AZ durchzublättern. Ja, ich weiss es ganz genau: Werner Schmid war Kunstmaler in St,.Gallen, der drei Jahre lang an der Bankgasse das Chlöschti, so hiess die Kneipe in der Altstadt, geführt hat. Er hat gekocht, er hat die Gäste bedient, er hat den Raum mit Bildern und anderen Objekten geschmückt. Ein schöner, ein gemütlicher Ort war’s. Eine Art Pendant zum Splügen von Wirt Sam Ovadia am Pic-o-Pello Platz. Werner Schmid war ein Multitalent. Jahrzehnte nach unserer ersten Begegnung, es dürfte um 2004 gewesen sein, war ich an einer Lesung im Felsenkeller in Weinfelden, wo er Geschichten über Gastwirte und ihre Gaststätten vorgelesen hat. Und er ist einmal zu mir nach Zürich gekommen, wo wir auf einem ausgedehnten Spaziergang in einem Atelier für modische Männerröcke gelandet sind und er einen solchen Rock gekauft hat. Ich weiss nicht, ob er diesen Männerrock auch benutzt hat. Ich jedenfalls hatte den Mut nicht, habe keinen Rock gekauft. Jetzt bin ich unsicher: War er das? War ich wirklich mit ihm Atelier AMOK von Sandra Kuratle gewesen? Ich muss die Anprobe fotografiert haben: Werner Schmid im langen schwarzen Rock. Aber ich finde diese Fotografie nicht. Fotos sind meine Gedächtnisstütze. Ich fotografiere seit Jahrzehnten fast jeden Tag. Ich muss wieder zu meinen Bilderschachteln, um den Mann im langen Rock zu suchen. 

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1 Kommentar

  1. Lieber Michael, vielen Dank für Text und Bild. Schön, dank deinen Erinnerungen und Fotos in eine vergangene, farbig-lebendige Epoche von St. Gallen einzutauchen.
    Herzlich Antonia

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