Atatürk in Variationen

Eine Büste von Republikgründer Atatürk im Europaministerium in Ankara

Autor: Michael Guggenheimer

Da reist eine Fotografin aus der Schweiz in die Türkei, um ein Fotoprojekt im Land ihrer Herkunft zu realisieren. Sie nimmt sich vor, die Präsenz von Kemal Atatürk im Land festzuhalten. Sie besucht die grossen Städte, sie bereist das weite Land und sucht Dörfer ab, sie schaut genau hin und entdeckt, was sie schon vorher wohl beobachtet haben muss, nämlich dass der Republikgründer überall präsent ist. Ob im Klassenzimmer oder im der Ortsverwaltung, ob im Restaurant, im Café oder beim Schuhmacher, ob an der Tankstelle, beim Bäcker oder im Lebensmittelladen: Atatürk ist überall, Atatürk ist omnipräsent. Immer wieder Atatürk. 

Über mehrere Jahre begibt sich die schweizerisch-türkische Fotografin Mine Dal immer wieder in die Türkei und findet immer noch weitere Bilder, Büsten, Reliefs, Statuen, gemalte Bilder, Plakate, Ansichtskarten und Fotografien von Atatürk in allen nur erdenklichen Ausführungen, Grössen und Positionen. Atatürk gibt es sogar als Tätowierung, seine Unterschrift auch als Schmuck für eine Halskette. 1,6 Kilogramm schwer ist das Buch in der Edition Patrick Frey, das diese Farbbilder versammelt. Hunderte Bilder hat Mine Dal zum Thjema gemacht. Und es ist noch mehr als die Präsenz des im Jahr 1938 Verstorbenen, die ihre Bilder zeigen. Fast nebenher wird einem die Türkei beim Durchblättern des voluminösen Buchs gezeigt. Es ist der Alltag in der Türkei, den man bei der Suche nach Spuren der Atatürk-Verehrung sieht. 

Atatürk in gross und Atatürk in allen Dimensionen. Atatürk im Anzug und mit Krawatte, Atatürk in einer Militäruniform, Atatürk mal als junger Mann und dann wieder als alter Mann, Atatürk in einer Fotomontage als Werbefigur für ein Getränk und Atatürk hoch zu Ross oder mit einer Zigarette in der Hand. Im Damenmodegeschäft blickt er die Kundinnen an, dann ist er als Puzzlebild zu sehen. Mal schaut er die Patienten im Wartezimmer einer Arztpraxis an, und dann wieder blickt er in einem leicht kitschigen Gemälde am Meeresufer stehend in die Ferne. Man blickt in Wohnungen hinein und in Läden. Manchmal muss man ihn auf der Fotografie suchen, weil sich das Bild oder die Plastik im Gesamtbild klein versteckt hält. 

Eine Doppelseite aus dem besprochenen Buch

Republikgründer Atatürk, der sein Land näher an Europa brachte, muss heute wohl auch als Gegenfigur zum jetzigen Präsidenten verstanden werden, der Richter, Journalisten, Schriftsteller, Demokraten in Gefängnisse einsperren lässt. Mine Dals Everbody’s Atatürk ist ein ebenso ernstes wie witziges Buch. Zeig mir, wo Atatürk ist und ich sage dir, wie omnipräsent dieser Mann noch heute in der Türkei ist. Der Mann, der sein Land öffnete, dessen Name «Vater der Türken» heisst, hätte sich wohl kaum mit dem jetzigen Präsidenten verstanden, der Atatürks säkulare Reformen zurückdreht. Wunderschön, wenn die Fotografin beim Aufnehmen einer Fotografie Atatürks auch plötzlich im Bild sichtbar wird, weil ihre Aufnahme auch sie beim Fotografieren in einem Spiegel zeigt. Everybody’s Atatürk ist Mine Dals erstes Fotobuch. Auch eine Art Bildband zur Türkei. Und wenn man sich Mine Dals im Netz angedeuteten Fotoprojekte anschaut, ist man sicher, dass dies nicht ihre letzte Fotobuchpublikation sein kann. Schön, dass das Buch in der Türkei gedruckt wurde. Die rote Farbe der Fahne der Republik ist im Buch präsent, das zwei erhellende englischsprachige und türkische Texte von Schriftsteller und Filmregiseur Zülfü Livanelli und vom Journalist und Politiker Altan Öymen aufweist. Und nicht zu vergessen: die Buchgestaltung besorgte das Zürcher Designatelier Bonbon von Valeria Bonin und Diego Bontognali. 

Mine Dal: Everbody’s Atatürk. erschienen bei Edition Patrick Frey, Zürich 2020. 652 Seiten

Eingeworfen am 21.1.2024

1 Kommentar

  1. nicht ihre letzte Fotobuchpublikation ….
    mit Spannung darauf wartend….

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