Im Anhang steht es: «Die in diesem Bändchen vorliegenden historischen Kurzporträts der Altstadt-Gassen St.Gallens sind 1975 und 1976 auf Anregung des damaligen Lokalredaktors Michael Guggenheimer im St.Galler Tagblatt erschienen». 43 Jahre sind es her, seitdem das Buch «St.Galler Gassen» erschienen ist. Die Texte hat Ernst Ziegler, der damalige Stadtarchivar von St.Gallen, verfasst, die Bilder in Schwarz-Weiss habe ich gemacht. Das Buch, von Stardesigner Jost Hochuli gestaltet, längst vergessen, seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Zufällig in einem Büchergestell im Keller wiederentdeckt, durchgeblättert und neugierig geworden: Wie sehen die Orte heute aus? Würde ich die abgebildeten Häuser wiederfinden?
Wenige Tage später Buch und Kamera eingepackt und hingefahren. Eine Route durch die Altstadt hatte ich mir auf einem Zettel aufgeschrieben. Und erst beim Gehen bemerkt, dass die Anordnung der Texte im Buch auch einen Spaziergang durch die Altstadt ergeben hätte.
Begonnen mit der Fotografie auf dem Bucheinband: Zwei alte Männer stehen vor einem Haus, sie unterhalten sich, einer hält eine Zigarette in der Hand, der andere weist mit der linken Hand auf etwas. Ich kann das Bild nicht wiederholen, ich sehe in der stillen Augustinergasse keinen einzigen Passanten, geschweige zwei. Als ich meine Kamera wieder in der Tasche verstaue, öffnet ein junger Mann eine Haustüre und will wissen, was ich da mache. Als ich ihm das Buch mit dem Coverbild zeige, meint er, als Sekundarschüler hätte er auch alte Stadtbilder mit neuen vergleichen und beschreiben müssen.
Im Buch steht im Bild der Metzgergasse Schumacher Schmucki vor seinem Laden. Breitbeinig, Lederschürze, die Arme gekreuzt. Ich erinnere mich an ihn: Mitglied von Schwarzenbachs ausländerfeindlicher Partei der damaligen Republikaner. Ein gesprächiger Mann, der fliessend Französisch sprach, weil er lange in Frankreich gelebt hatte. Seit Jahrzehnten tot. Die Geschäftstafel, die auf dem Bild noch zu sehen ist, ist nicht mehr. Das kleine Lokal ist jetzt Teil der Foccaceria. Wie oft war ich schon dort und hatte nie an Ernst Schmucki gedacht!
Im Buch ist ein Bild von den beiden Verkäuferinnen der Appenzeller Käse- und Butter-Halle zu sehen. Das Gebäude steht noch. Aber die sympathische Handlung, die einst nur an Samstagen offen war, ist heute eine Fahrrad-Reparaturwerkstatt. Und wo bitte finde ich das Heidengässlein? Ich will das doppelseitige Bild aus dem Buch wiederholen, gehe die Schwertgasse rauf und runter, gehe der Katharinengasse entlang, irgendwo muss diese kleine Gasse doch sein. Aber ich finde sie nicht, kann das Bild nicht wiederholen. Passanten, die ich frage, können mir nicht weiterhelfen. Zuhause erst komme ich auf die Idee, Google suchen zu lassen und stelle fest, dass ich durch das Heidengässlein gegangen bin, ohne es zu realisieren.
«St.Gallens teuerste Zahnlücke» lautet die Legende einer weiteren Fotografie, auf der ein grosser Parkplatz zu sehen ist. Es ist der sogenannte Bohl. Ich versuche, die gleiche Bildposition einzunehmen: Ein grosses Geschäftsgebäude steht hier, MacDonalds ist schon vor mehr als zwanzig Jahren eingezogen, hier stand einst das alte St.Galler Stadttheater. Wie sehr sich nebenan der kleine Kreuzgang des Katharinenklosters verändert hat: Im Buch ein verfallener Innenhof, das Riegelwerk morsch, die Fassaden von Efeu überwuchert. Heute wunderbar renoviert. Der Efeu ist noch da, aber gestutzt und nur auf Erdgeschosshöhe. Im ersten Stockwerk helles Licht, hier befindet sich heute die städtische Kinder- und Jugendbibliothek.
Mit dem Buch in der Hand flaniere ich weiter durch die Altstadtgassen, suche nach Hausfassaden, Geschäftsinschriften, Erkern und Fassadenmalereien wie dem Strauss an der Webergasse oder dem Löwenbild über dem Ladenlokal der ehemaligen Bäckerei zum Löwen, wo sich einst St.Gallens Frauenbuchladen befun den hat. Der Spisergasse entlang zum Spisertor an den Rand der Altstadt. (Oberes Bild) St.Gallens grösstes Wandbild der einstigen Buchdruckerei Volkstimme, mit dem Bild des Zeitungslesers ist weg. (Unteres Bild) Hier habe ich, lange ist’s her, ein Jahr gearbeitet. Die sozialdemokratische Tageszeitung Ostschweizer AZ, Nachfolgerin der Volksstimme, existiert seit Jahrzehnten nicht mehr. Das vorgelagerte Haus des Restaurants Speisertor ist verschwunden. Die Sichtachse von früher vom Spisertor bis weit in die Moosbruggstrasse gibt es nicht mehr. Dafür steht ein wuchtiges Seniorenzentrum da, das alle Proportionen des Altstadtrandes durchbricht. Hätte ich ohne das Buch die Veränderungen bemerkt? Nein, gewiss nicht. Ich bin immer wieder durch diese Gassen gelaufen. Mein Blick suchte aber nicht geeignete Motive für Texte des Stadthistorikers. Ob sich die Stadt verändert hat? Gewiss. Ob zum Guten oder zum Schlechten? Ich weiss es nicht. Manches sieht schöner aus, herausgeputzt. Aber ob es sich nun besser hier leben und arbeiten lässt?
Was für eine schöne Begnung. Wie oft stand ich dort, am Spisertor, zusammen mit Hoseyn. Wir gingen unweit von der Stelle jeweils zum Gespräch bei feinem hausgeröstetem Kaffee. Vieles ist verschwunden, wie du beschreibst, aber auch einiges geblieben, wie die Schienen der Bahn, die Häufigkeit nicht der Käfer, aber der Modelle des Herstellers… Die Veränderungen sind gewaltig, oder meine ich das nur?