Der einzige Fotograf im Tal

Ein Fernglas, eine Kamera, ein Mikroskop und eine Brille. Eine Werbekarte eines Fotoateliers

Autor: Michael Guggenheimer

Werner Ruinelli, pensionierter Bankangestellter in Castasegna, hat den Fotografen Andrea Garbald (1887-1958) zwar nicht gekannt. Aber er kann die Geschichte des Fotografen wunderbar erzählen. Ruinelli macht Führungen durch Garbalds Villa, die in Castasegna nur wenige Metern von der Grenze zu Italien entfernt steht. Man sitzt an einem runden Tisch im Bibliotheksraum, in dem der vollkommen vereinsamte Garbald tot aufgefunden wurde und in dem später ein Polizeiposten untergebracht war und lässt sich die Geschichte des Hauses und des mit den Jahren vereinsamten Fotografen erzählen.

Doch zunächst noch zum Haus des Fotografen: Gottfried Semper, Architekt der Semper Oper in Dresden oder des ETH-Hauptgebäudes in Zürich sowie Professor an der ETH, war zwar häufig und lange in Italien. Den Ort Castasegna hat er nie besucht. Dennoch ist das Haus, in dem Andrea Garbald gelebt hat, im Jahr 1862 auf dem Reissbrett Sempers entstanden. Zolldirektor Agostino Garbald, Andrea Garbalds Vater, hatte Kontakt mit Semper aufgenommen, ihm das Gelände geschildert und um Pläne für eine «italienische Landvilla» gebeten. Die Villa wurde nach den Plänen Sempers gebaut, ohne dass Semper sie je gesehen hat. Zolldirektor Agostino Garbald lebte mit Frau und drei Kindern in der Villa, die der berühmte Architekt entworfen hatte.

Andrea Garbald, ältester Sohn des Zolldirektors, hatte Fotografie in Zürich am Fotografischen Laboratorium des Eidgenössischen Polytechnikums Zürich (der späteren ETH) gelernt und später ein Fotoatelier im elterlichen Haus eingerichtet. Er war um 1900 der einzige professionelle Fotograf im Bergell zwischen der italienischen Stadt Chiavenna und dem Engadiner Ort Sils Maria. Eine Zeitlang betrieb er mit einem Freund zusätzlich ein Fotoatelier im italienischen Chiavenna. Familienbilder, Landschaftsfotos und Ansichtskarten hat Garbald aufgenommen. Die Zeitspanne seines Wirkens als Fotograf umfasst mehrere Jahrzehnte, weshalb er mit Recht auch als der Dokumentarfotograf oder Bildchronist des Bergells bezeichnet werden kann. Berühmt ist jene Aufnahme Garbalds, auf der die gesamte Künstlerfamiie Giacometti zu sehen ist. Es gibt wohl kaum eine Publikation über die Giacomettis, in der diese Aufnahme fehlt, von der man lang nicht wusste, dass Garbald sie gemacht hat.

Werner Ruinelli holt während der Führung durch die Villa eine alte Ansichtskarte hervor, es ist eine Werbekarte, auf der eine Kamera, ein Fernglas und eine Brille zu sehen sind. Auf der Rückseite steht die Weihnachtswerbung von Garbalds Atelier: «Natale é la festa che riunisce figli e genitori. Cogliete l’occasione per fare il gruppo di famiglia». Zu Weihnachten solle man doch ein Familienfoto machen lassen! Andrea Garbalds Schwester Margherita liess sich in Chur und Basel zur Fotografin ausbilden und arbeitete mit ihrem Bruder im Fotoatelier, das in den 1920er Jahren Studio Fotografico A. & M. Garbald, Castasegna geheissen hat, erzählt Werner Ruinelli.

Werbung für das Fotoatelier Garbald

Lange Zeit nach seinem Tod waren nur wenige Bilder Garbalds bekannt gewesen. Bis der Schweizer Fotograf und Künstler Hans Danuser mit seiner Frau, damals Ärztin im nahen Tal- Krankenhaus von Soglio, die Wohnung im ersten Obergeschoss der Villa gemietet hatte. Im Dachgeschoss des Hauses fand Danuser Glas- und Zelluloidnegative sowie Bilder, die lange verschollen waren und machte Garbalds Bilderwelt der Öffentlichkeit bekannt. Der Publizist Georg Sütterlin hat etwas später im Auftrag der Schweizer Fotostiftung Bergeller Familien aufgesucht, bei denen er 300 bis damals verschollene Fotografien Garbalds gefunden hat, die das Alltagsleben im Bergell dokumentieren, auch Porträt-, Stillleben-, Architektur-, Landschafts- und Gebirgsfotografien. «Als Künstlerfotograf wurde Andrea Garbald im Tal nicht verstanden, vereinsamte gegen Ende seines Lebens – und nach dem Tod geriet sein Schaffen in Vergessenheit», schreibt Beat Stutzer, ehemaliger Direktor des Kunsthauses Chur. Stutzer betont, dass die enge Zusammenarbeit der Geschwister eine gesicherte urheberrechtliche Zuordnung des fotografischen Nachlasses erschwert. Die Datierung der Fotos und die Benennung der abgebildeten Personen sind ebenfalls problematisch, da bislang aussagekräftige Quellen fehlen.

Hans Danuser war es, der die ETH davon überzeugen konnte, die Liegenschaft, die ja vom selben Architekten entworfen wurde wie das ETH-Gebäude zu beleben. Auf dem Grundstück wurde ein Wohnturm erbaut, entworfen von den Basler Architekten Quintus Miller & Paola Maranta, heute finden sich in diesem Bau und in der Villa jahraus jahrein Gruppen von Studierenden mit ihren Dozenten zu Workshops ein. Villa und Wohnturm können nach Voranmeldung besichtigt werden. Und um die Tradition eines Hauses der Fotografie aufrechtzuerhalten, finden sich im Semper-Bau wie auch im Neubau Fotoausstellungen statt.

https://www.garbald.ch/de/

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1 Kommentar

  1. Dazu kommt mir ein Essay des Philosophen Roland Barthes in den Sinn. Er hat den Begriff des Punctum gebraucht für den Moment, wo sich in einer Fotografie, einem Porträt, der Blick aus der Vergangenheit mit dem Blick aus der Gegenwart kreuzt, zur Begegnung wird.
    Wer sich jetzt auf die Spuren des „einzigen Fotografen im Bergell“ begibt, hat eine Ausstellung in Corzoneso, in der Casa Rotonda, im Bleniotal verpasst. Es ist der Ort eines anderen „einzigen Fotografen“: von Roberto Donetta (1865 bis 1932). Das Archivio Roberto Donetta zeigte in der Ausstellung „A. Garbald e R. Donetta. Amici sconosciuti“ eine Auswahl von Fotografien der beiden.
    https://robertodonetta.ch/it/News/415
    Und wer den Fotografen Roberto Donetta (1865-1932) noch nicht kennt, dem sei – neben dem Bergell – eine Reise ins Bleniotal oder auf die Website des Archivio empfohlen, wo seine Bilder zugänglich sind. Sie treffen mitten ins Herz.

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