Die Abwesenden und die Eingeschleppten

Drei Fotos von Blumen aus dem Kanton Neuenburg

Autor: Michael Guggenheimer

Die Stadtbibliothek von Neuchâtel hat im Jahr 2013 das Projekt «Enquête photographique neuchâteloise» ins Leben gerufen. Dabei geht es darum, alle zwei Jahre einer Fotografin oder einem Fotografen den Auftrag zu geben, eine thematisch vorgegebene fotografische Bestandesaufnahme auf dem Gebiet des Kantons Neuenburg zu realisieren. Mit diesem Projekt wird alle zwei Jahre einerseits ermöglicht, das fotografische Schaffen zu fördern und gleichzeitig das Kulturerbe des Kantons zu dokumentieren. Mit diesem fotografischen Vorhaben wird versucht, die Erforschung der Landschaft, der Kultur und der Eigenheiten des Kantons voranzutreiben.

Olga Cafiero hat 2019 mit der Kamera, mit dem Mikroskop, mit Licht sowie mit dem Bleistift die Vegetation des Kantons aufgenommen und bildhaft festgehalten. Gewissermassen hat sie ein Herbarium des Kantons erstellt, das realistische sowie künstlerische Vorgehensweisen vereint. In ihrer Projektbeschreibung hiess es: «Das Anlegen eines Herbariums erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt umso sinnvoller, als die Flora subtilen oder kritischen Veränderungen unterworfen ist, Folgen des Klimawandels und des menschlichen Handelns vor Ort». Im Neuenburger Musée d’Art et d’Histoire stellt sie Resultate ihrer Arbeit aus. Gleichzeitig ist beim Verlag Scheidegger und Spiess ihre Arbeit in Buchform erschienen. Ausstellung und Buch tragen den Titel «Flora Neocomensis – Fotografische Ermittlung Neuenburg 2019». Gleich vorausgeschickt sei, dass das Buch in fotografischer und gestalterischer Hinsicht eine Augenweide ist, die museale Präsentation aber nicht unbedingt eine Reise nach Neuenburg rechtfertigt. Leider. Letzteres ist nicht der Fotografin anzulasten. Doch dazu später.

Zwei Jahre vor Olga Cafiero hatte Fotograf Serge Fruehauf eine fotografische Arbeit im Rahmen der Enquête mit dem Titel „Batirama“ präsentiert, bei der es um die zeitgenössische Architektur im Kanton Neuenburg ging. Seine Bilder wurden damals im Museum von La Chaux-de-Fonds gezeigt, der zweisprachige Katalog erschien ebenfalls beim Zürcher Verlag Scheidegger und Spiess.

Fotografin Olga Cafiero hat sich beim Projekt Flora Neocomensis mit einer unglaublichen Ernsthaftigkeit, mit Neugierde und Kreativität des Themas angenommen. Eine Liebe zur Pflanzenwelt ist ihrem Werk anzusehen. Auf Wanderungen und ausgedehnten Spaziergängen durch den Kanton hat sie mit einer dokumentarischen Gründlichkeit ihre Arbeit ausgeführt. Die Fotografie diente ihr zur Aufzeichnung der Pflanzenwelt. Mit Fachpersonen aus dem Gebiet der Botanik und mit Lokalhistorikern hat sie sich ausgetauscht. Spannend die Systematik, der sich Cafiero bei der Arbeit unterzogen hat: Die Blumenwelt des Kantons unterteilt sie im Buch wie in der Ausstellung in Bilderserien oder -gruppen mit den Bezeichnungen «Index», «die Abwesenden, «die Eingeschleppten» und die «Gewöhnlichen», wobei sie sich bei der Nachforschung im Bereich der Abwesenden auf die Schriften des Philosophen Jean-Jacques Rousseau stützt.

Unter «Index» versteht die Fotografin die «gewöhnlich anzutreffenden» Blumen, bei den Abwesenden handelt es sich um ausgestorbene Blumen, von denen Zeichnungen und Beschreibungen aus früherer Zeit überliefert sind. Die Eingeschleppten sind Pflanzen, die nicht aus der Region stammen. Manche Blumen hat sie in der Natur dort fotografiert, wo sie wachsen, die meisten im Studio vor einem abstrakt-neutralen Hintergrund, andere hat sie mitgenommen, getrocknet, fotografiert, wiederum andere hat sie im Rasterelektronenmikroskop fotografiert. Manche Fotografien erinnern in ihrer Farbigkeit an Stilleben aus der holländischen Malerei.

Zu den «Gewöhnlichen», die sie fotografiert hat, gehören 104 Blumen. Mit Hilfe des Biologen Philippe Druart wurden alle Pflanzen bestimmt, ihre lateinischen Namen sind im Buch allesamt aufgeführt. Künstlerisch und auch detailgenau sind diese Fotos geworden. Beim Betrachten der Fotografien fühlt man sich erinnert an frühe Zeichnungen von Pflanzen, nur dass Olga Cafieros Blumen keine Ablenkung durch andere Pflanzen oder durch ein komponiertes Setting erfahren. In der Ausstellung wie im Buch haben jene Pflanzen, die zur Zeit von Rousseau noch auf Kantonsgebiet vorhanden waren, in Form von  Zeichnungen aus der Vergangenheit Platz gefunden. Diese Bilder sind in Grautönen gehalten. In der Ausstellung liegen Zeichnungen von mehreren ausgestorbenen Blumen in einem kleinen Pavillon hinter einer fotografierten Baumgruppe im Oberlichtsaal zum Mitnehmen auf. Die Menge der Bildkarten ist begrenzt: So wie die Blumen einst verschwunden sind, werden die Zeichnungen eines Tages alle weg sein.

Spannend die Art und Weise, wie die Fotografin mit den eingeschleppten Pflanzen umging: Die Aufnahmen sind überbelichtet, womit «symbolisch das durch diese Eindringlinge ausgelöste Ersticken» gezeigt werden soll, schreibt Danaé Panchaud, Direktorin des Photoforums Pasquart in Biel, im prächtigen Bildband. Die «Geschützten» hat Olga Cafiero nicht gepflückt, sondern vor Ort fotografiert. Cafiero hat sich aber nicht nur auf die Makrofotografie beschränkt. Sie ist auch der Landschaft nachgegangen, in denen die Blumen wachsen und hat Landschaftsbilder fotografiert. Durch die Mehrfachbelichtung dieser Bilder will sie sich nicht auf einen ganz bestimmten Ort fixieren. In der Ausstellung in Neuchâtel ist das Landschaftsbild grossformatig präsent. Bewegt man sich durch die Ausstellung in Neuchâtel und hat die Publikation zur Hand, dann wird einem leider bewusst, wie dringend das Museum einer Renovation, einer dynamischeren Präsentation bedarf. Während das Kunstmuseum in der weitaus kleineren Neuenburger Stadt Le Locle von allem unnötigen Krimskrams befreit wurde und sich heute als ein modernes Kunstmuseum präsentiert, wirkt das Museum in der Kantonshauptstadt recht verstaubt, kommen die Bilder der Fotografin im Vergleich zum Buch leider nicht wirklich zum Ausdruck. Die verschiedenen Bildsprachen der Fotografin, die im Buch vortrefflich zum Ausdruck kommen, fehlt die Wirkung in Ermangelung einer grosszügigen Präsentation im Museum. Welch’ ein Glücksfall dieser Fotoband, den Vanja Golubovic, Thibaud Tissot und Matthieu Huegi von Genfer Designstudio Onlab gestaltet haben. Olga Cafiero (*1982) stammt aus Como (I) und lebt in Lausanne. Sie hat einen MA in Fotografie an der ECAL (Ecole cantonale d’art de Lausanne), studierte anschliessend Kunstgeschichte an der Uni Lausanne. Ihre Arbeiten konnte sie an Ausstellungen in der Schweiz und im Ausland zeigen, seit 2009 publiziert sie regelmässig in internationalen Zeitschriften. Neben anderen Auszeichnungen hat sie den Swiss Design Preis erhalten.


Die Ausstellung in Neuchâtel dauert bis zum 27. September 2020

 

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