Noch vor nicht langer Zeit habe ich stolz behauptet, dass ich bei jeder Fotografie, die ich selber aufgenommen hätte, auch noch wisse, wer auf ihr zu sehen sei. Beim Sichten meines Bilderarchivs hat sich jetzt gezeigt, dass je älter ich werde und je mehr Bilder sich in meinem Archiv häufen, die Zahl der Bilder zunimmt, die ich nicht mehr genau orten kann. Die Zeit ist vorbei, in der ich bei jedem Bild die abgebildete Person kannte.
Es fing vor einem halben Jahr an mit einer Serie von sechs Polaroidbildern. Drei Personen erkannte ich sofort. Zu drei Fotografien fiel mir nur ein, dass sie im Volkshaus in Biel aufgenommen wurden. Zwei Mails genügten, um festzustellen, wer die drei Unbekannten waren. Komplizierter wurde es beim Zusammenstellen von Fotos für eine Publikation mit Angaben zu israelischen Autorinnen und Autoren. Ich hatte die Bilder beisammen. Doch wer war die Dame, die mich aus dem Bilderordner zur israelischen Literatur anschaute? Dass die Aufnahme in Israel aufgenommen wurde, war klar: Wo sonst liest im Hintergrund jemand eine israelische Tageszeitung? Ich suchte nach dem Namen der Frau, schaute das Bild während mehreren Tagen immer wieder an. Vergeblich.
Weil alle Suchbemühungen mit Hilfe von Google, Wikipedia und Image Search scheiterten, schickte ich einer Freundin in Israel das Bild und fragte sie, wer die Abgebildete sein könnte. Ihre Antwort: «Ich kenne das Gesicht, meine darin eine Frau aus Jerusalem zu erkennen, die ich manchmal sehe, die aber nichts mit Literatur zu tun hat. Mein Mann erkennt sie auch nicht. Vielleicht der Beginn zu einem neuen Krimi? Wie kommt die Dame denn zwischen Deine Bilder?“.
Ich las die Antwort und schrieb zwei Tage später zurück: „Langsam kommt etwas Erinnerung. die unbekannte Frau habe ich in Jerusalem in einem Café in kennengelernt. Ich glaube, es handelt sich bei ihr um eine Kinderbuchautorin. Ein Buch mindestens von ihr ist ins Deutsche übersetzt worden, mehr weiss ich nicht, mehr fällt mir nicht ein. vielleicht hilft dir das auf die Sprünge?». Nein, es half nicht. Zwei Namen kamen zurück, die Suche bei Google Image Search ergab keinen Treffer.
Dann die Idee, dem Institute for the Translation of Hebrew Literature das Bild zu schicken. Die müssten doch wissen, wer die Frau auf der Fotografie war, wenn sie zwischen meine Bilder von israelischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller geraten war. Keine Stunde verging und schon war die Antwort da, ganz knapp, sechs Worte lang: «The author is Tamar Verete-Zehavi» schrieb Direktorin Nilli Cohen. Nachschauen im Netz: «Tamar Verete-Zehavi, geboren 1957, ist Hochschulprofessorin für Pädagogik und leitet unter anderem Gesprächsgruppen zwischen Juden und Arabern. Für ihr erstes Buch, das auf Arabisch und Hebräisch erschien, erhielt sie den Martha-Preis zur Förderung von Toleranz in Jerusalem». «Afterschock. Die Geschichte von Jerus und Nadura» heisst das Buch, das von Eldad Stobezki und Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt wurde und beim cbj Verlag erschienen ist. Jetzt kam die Erinnerung: Ich wollte die Autorin zum Erscheinen ihres Buchs zu einer Lesung in die Schweiz einladen. Weshalb die Einladung nicht zustande kam? Ich lese im Netz die Besprechung aus der ZEIT und vermute, dass die kritische Beurteilung von Literaturkritiker Reinhard Osteroth vielleicht den Ausschlag dafür gegeben hat, dass ich Tamar Verete-Zehavi nicht noch ein zweites Mal begegnet bin. Ich nehme es an, weiss es nicht mehr. Geblieben ist ein Bild, das ich seinerzeit wohl als «Vorrat» für eine Veranstaltung aufgenommen habe.
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