Lange war solide Architekturfotografie das Arbeitsgebiet von Naomi Leshem. Innenaufnahmen von Wohnbereichen und Geschäftsbauten, Bilder von neuen Bauten im Auftrag von Zeitschriften, Bauherren und Entwerfern. Vor etwas mehr als zehn Jahren begann die israelisch-schweizerische Doppelbürgerin zusätzlich zu Auftragsarbeiten auch frei zu fotografieren, sich selbst Bildthemen zu stellen. Ihre grossformatigen Bilderserien begannen, zunächst, Geschichten vom Verschwinden und Vergehen. zu erzählen. Das erste Bild dieser Serie zeigt eine stille Wasserfläche, ein See im leichten Dunst der Morgendämmerung, in der Ferne ein Höhenzug und auf dem Wasser ein Boot, ein etwas heruntergekommenes Ausflugsschiff. Der See ein Abschiedsort. Hier hatte ein Militärpilot mit seiner Kampfmaschine bei einem Wendemanöver die Höhe über Wasser angesichts der starken Blendung nicht richtig einschätzen können. Eine Flügelspitze des Jets hat die Seeoberfläche berührt, die Maschine mit ihrer Besatzung ist mit voller Wucht im See zerschellt, Pilot und Navigator haben an dieser Stelle ihr Leben verloren. Naomi Leshem ist in einer Fotoserie Orten des Verschwindens und der Trennung nachgegangen: Eine Unfallstelle auf einer Strasse, der Ort, an dem jemand umgebracht wurde, ein Schwimmbad, in dem ein Badender ertrunken ist. Anders als ein Journalist oder eine Schriftstellerin halten die Fotografien die Orte fest, an denen jemand zum letzten Mal gesehen wurde. Es sind nicht Worte, es sind keine geschriebenen Erzählungen, es sind Bilder, deren Bedeutung sich aus der jeweiligen Bildgeschichte erschliesst. Die Fotografien hat sie in mehreren Galerien und Museen ausstellen können. Eine Art Fortsetzung bildet ihre Fotoserie mit dem Titel ‘Runways’. Mitten auf Abflug- und Landepisten von Militärflughäfen hat sie sich mit ihrer Kamera postiert, um dort, wo Düsenjäger unter mächtigen Lärm starten und landen eine Bilderfolge zu machen. Auf halber Bildhöhe berühren sich auf diesen Fotografien Himmel und Erde. Und immer ist auf der Piste eine junge Frau zu sehen, die sich auf dem Rollfeld in Richtung des Horizonts wegbewegt oder wegrennt. Die harten Bremsspuren auf den Pisten deuten jene Wucht an, mit denen die Flugzeuge zum Anhalten gebracht werden. Die Landschaften zu beiden Seiten der Piste deuten die verschiedenen Vegetationsregionen, in denen sich die Flugplätze befinden. Meeresdünen, industrielle Bauten am Horizont, Wüstensand, grüne Hügel. Auf einer einzigen Fotografie dieser Serie ist kein Mensch zu sehen. Es ist jenes Bild, das ich mir auswählte und das in meinem Büro hängt. (Foto: Naomi Leshem. Einen Einblick in Naomi Leshems Fotoarbeiten gewähren zwei Bildbände, die im Verlag Benteli erschienen sind: Runways und Sleepers.)
Eingeworfen am 17.5.2020
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