Von Fotoalben (1)

Doppelseite aus einem privaten Album aus den 1960er Jahren

Autor: Michael Guggenheimer

Im Büchergestell meines Vaters standen sie. Zwei Tablare lang. Lederrücken und Aufschrift auf dem Einband. Provence, Loireschlösser, Die Barockstrasse. Nach den Ferien ordnete mein Vater zunächst die Fotografien. Die besten Bilder blieben, die anderen verschwanden. Dann erfolgte der Aufbau eines chronologischen Erzählstrangs und nach dem Einkleben der Bilder entstand der Text. Manchmal wurden noch Eintrittskarten eingeklebt. Und kam ich zu Besuch, musste ich mir die zwei Alben der letzten Reise anschauen und alle die Geschichten zwischen den Bildern anhören. «Isoliert überliefert, sind Fotoalben ziemlich kryptische Gebilde», schreibt Foto-Erzählhistoriker Rudolf Herz in einem Essay über Bilderalben.

Nach Vaters Tod habe ich alle seine Alben durchgeblättert. Einzelne Bilder, auf denen meine Eltern zu sehen waren, habe ich aus den Alben herausgeholt. Mutter vor dem Hôtel Dieu in Beaune, Mutter auf der Plaza Mayor in Madrid, Mutter auf der Zuschauerterrasse des Chrysler Buildings. Diese Bilder aufbewahrt und alle die Bilder von Denkmälern, die die Reisen meiner Eltern bestimmt haben, sind im Altpapier Container gelandet.

Das wird mit meinen Fotografien eines Tages auch passieren. Ich gebe zu, auch ich habe Alben mit Bildern vollgeklebt, in anderen Alben sorgsam Fotografien in Fotoecken eingepasst oder hinter selbsthaftende Klarsichtfolien eingepresst. Ich habe sie noch nicht entsorgt. Selten blättere ich mich durch alte Alben mit ihren knisternden Zwischenblättern und bin ebenso peinlich von der Qualität meiner Bilder berührt wie von Einträgen in alten Tagebüchern, die ich noch nicht entsorgt habe. In einem Büchergestell im Bastelraum befinden sich die Fotoalben, aus denen mir meine Kinder entgegenschauen. Ihre ersten vier oder sechs Jahre sind fotografisch festgehalten, dann noch Ferienbilder, irgendwann hat die Zeit der Albumpflege aufgehört.

Die Gestaltung von Bilderalben im Zeitalter der Digitalfotografie ist so anders geworden, auch sie zwar eine Freizeitbeschäftigung. Seit geraumer Zeit sehen private Bilderalben, die aus der Druckerei kommen, anders aus, viel professioneller gestaltet, obschon sie dieselben Erzählungen aufweisen wie ihre Vorgänger im analogen Klebezeitalter.

In Menge, Umfang und Vielfalt erreichten die privaten Fotoalben in den 1950er- und 1970er-Jahren ihre Blütezeit. Die Bilder zeigten mehrtheitlich Freizeit- und Urlaubsszenen; die Familienalben wurden immer stärker zu Reisealben. Das hat sich in der Zwischenzeit nicht verändert. Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino hat wiederholt entsorgte Bilderalben aus Abfallcontainern gerettet und einzelne Fotografien dazu benutzt, um mit ihnen Geschichten zu erfinden. «Die Rekonstruktion der beteiligten Personen, ihrer Verhältnisse zueinander, der Zeitpunkte und Orte der Handlung ist bei anonymen Alben ohne das familiäre Kontextwissen eine mühsame Detektivarbeit», schreibt Fotohistoriker Rudolf Herz in seiner Publikation «Gesammelte Fotografien und fotografierte Erinnerungen». Da konnte Wilhelm Genazino mit den anonymen Bildern seiner Phantasie freien Lauf lassen.

Ist nicht die Präsentation von Urlaubsbildern auf Internet-Plattformen wie Flickr, Facebook und Instagram die modernere Variante des Mediums Bilderalbum? Nur dass hier nicht nur die Familie, sondern Hunderte von «Freunden» mitansehen können, dass man die letzte Ausstellung in der Fondation Beyeler besucht und in New York von der Brooklyn Bridge auf Manhattan zurückgeschaut hat?

Eingeworfen am 17.5.2020

1 Kommentar

  1. Aus dem Leben gegriffen. So geht es allen Alben. Sie sind meist der Erinnerungsanker jener, die die Fotos aufgenommen und sorgsam in die Bücher geklebt haben. Meine Eltern haben ziemlich häufig in diesen Büchern geblättert. Denn oft gab es Fragen, Zweifel, gar Streit, was nun wo und wann stattgefunden hat. In diesem Sinne sind diese analogen Alben auch besser als jene Fotogalerien mit unendlich vielen Aufnahmen, die zwar chronologisch aber ohne Zusammenhang abgelegt sind, denn sie wurden zumeist präzise beschriftet, mindestens mit Ort, Datum und oft mit Bemerkungen. – Mir steht die Durchsicht dieses Konvoluts noch bevor. Ich werde es machen wie du: Fotos mit den Eltern darauf werde ich herauslösen und zu einem Panorama des „Älter-Werdens“ zusammenstellen. Die Frage bleibt, ob meine Kinder die „Geschichte“ der Grosseltern behalten werden, sei es in elektronischer Form auf DVD oder als Fotoalbum aus der Druckerei.

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